Testen
Ein ganzes Fahrzeug auf seine Fahrfähigkeiten zu testen mag für Rennteams mit dem entsprechenden Budget ein leichtes sein. Auto am Computer Entwickeln, Besuch auf diversen Motoren- und Fahrwerksprüfständen dann ab auf die Strecke für die Feinabstimmung. Als Freizeit-Entwickler und Einzelmann "Team" ist dies nicht ganz in diesem Umfang realisierbar. Trotzdem kann ich mich mit etwas behelfen was der Realität zwar nicht zu 100% nahe kommt aber ich soweit an die Realität annähern kann dass es sicherlich von Nutzen ist. Ich war bis anhin eigentlich kein Fan vom Lenkrad am Computer und habe mich auch nicht gross damit beschäftigt, aber aufgrund der Tatsache dass ich mit einer Rennsimulation mein ganzes Fahrzeug Fahrwerkstechnisch abbilden kann macht dies zu einer Kostenoptimierten Lösung die ich gerne in Anspruch nehme ohne das Fahrzeug aus der Garage holen zu müssen.
Assetto Corsa bringt alles nötige mit um das Fahrzeug möglichst genau abzustimmen. Fahrwerk, Federung, Dämper, Reifen, Motor, Getriebe und Aerodynamik lassen sich frei programmieren um dem Original so nahe wie möglich zu kommen. Die Konfigurierbarkeit ist zwar damit verbunden das man einige Kenngrössen in Erfahrung bringen muss oder Berechnen kann und ist somit nicht zwingend die einfachste Art der Zusammenstellung aller Werte aber führt mit etwas Aufwand sicherlich zum Ziel.
Querlenker und Lenkung
Das Setup für die korrekte Platzierung der Querlenkeraufnahmen gestaltet sich relativ simpel, bedingt aber trotzdem etwas umrechnen da die Spielmechanik andere Ausgangspunkte nutzt als die Fahrwerksanalysesoftware. Die Software nutzt als Grundlage ein einfaches von der Mitte aus gehendes Koordinatensystem und das Spiel geht von der Spurweite der Räder aus und berechnet alle Drehpunkte von dort aus.
Zudem ist es im Spiel nicht möglich eine Mehrlenkerachse abzubilden, jedoch funktioniert meine Hinterachse im Grundsatz nach dem selben Prinzip und lässt sich somit problemlos auch als Doppelquerlenkerachse abbilden. Die Vorderachse entspricht einer gängigen McPherson Aufhängung somit stellt dies schonmal kein Hindernis dar.
Das Spiel kommt sogar mit einem kleinen Editor welcher es ermöglicht visuell zu prüfen was an der Radgeometrie angepasst wurde.
Was ich mir hier zusätzlich noch als Hilfe erstellte war ein 3D Modell welches ich mit einem 3D gescannten Achsschenkel ergänzte um eine möglichst realitätsnahe Repräsentation des Fahrwerks zu haben aus welchem ich einzelne Daten direkt messen konnte ohne jeden Wert umrechnen zu müssen.
Federung
Wie man von einem Fahrzeug in Realität annehmen würde wäre es ein leichtes einfach die jeweiligen Federraten einzugeben und es kann losgehen. Dem Spiel ist jedoch völlig egal wo Federn und Dämpfer verbaut sind, ausschlaggebend ist die Federrate am Rad welche abhängig vom Fahrwerkstyp berechnet werden muss.
Im Netz wird man schnell fündig wie sich diese Rechnung aufstellt, jedoch berechnen nicht alle die Rad-Federrate gleich. Hier fand ich unterschiedliche Berechnungen welche das Rad selbst als Bezugspunkt nehmen oder nur das Traggelenk am Unteren Querlenker. Dies kann je nach Felgenbreite und Einpresstiefe derer eine enorme Differenz in den Resultaten ergeben. 10-20N/mm an Federrate können hier schnell verloren gehen.
Nachdem ich die jeweiligen Federraten für mein Fahrzeug ermittelt hatte wurde mir automatisch vor Augen geführt dass ich offensichtlich vorne eine weichere Federung fahre als hinten. Während ich hinten eine Federrate am Rad von 63N/mm fahre sind es vorne nur 41N/mmm und beide Achse haben hierbei Federn verbaut mit stattlichen 120N/mm.
Hier gab es mit Sicherheit potenzial zum testen mit verschiedenen Federraten.
Dämpfer
Bei den Dämpfern verhält es sich ähnlich wie bei den Federn, jedoch stellt sich hier die Frage nach den Dämpferkennlinien welche nicht jeder Hersteller frei zur Verfügung stellt. Da ich ein KW Competition 2A besitze und KW so offen ist zu deren Dämpferkennlinien konnte ich dies Problemlos aus den Grafiken herauslesen welche auf der KW Website zur Verfügung steht.
Gewichtsverteilung/Schwerpunkt
Zwar kenne ich die Gewichtsverteilung des Corsas und konnte dies auch Problemlos als Kenngrösse hinzufügen jedoch habe ich keine Daten zur Schwerpunkthöhe beider Achsen. Hier habe ich nach etwas Recherche und Vergleiche mit ähnlichen Fahrzeugen eine hoffentlich möglichst genaue Annahme getroffen.
Alle Daten eingepflanzt... dann ab auf die Piste.
Das Spiel besitzt zusätzlich zum eigentlichen spielen einen Entwicklermodus in welchem diverse Fahrwerkszustände visuell angezeigt werden können sowie einiges an Telemetrie um Spur, Sturz, Reifen, Dämpfer usw. permanent überwacht werden können. Dies macht das suchen nach möglichen Fehlerquellen innerhalb des Fahrwerk um einiges einfacher.
Nachdem ich über 100 Stunden investiert habe das Fahrzeug auf diversen Strecken zu testen muss ich doch zugeben dass die Nordschleife ist noch immer die beste Teststrecke ist welche alle möglichen Szenarien für ein Fahrwerk durchgehen kann. Hier zeigten sich sehr schnell die Schwächen und Eigenheiten des Corsas welche Beachtung benötigten und welche Aspekte ich nicht in Betracht gezogen hatte während des Umbaus.
Der Mittelmotor macht den Corsa extrem lebendig und mit der falschen Fahrwerkseinstellung am Heck zum Teil nahezu unfahrbar. Einstellungen an nur einer Achse vornehmen und davon ausgehen dass alles in Ordnung sein wird ist ein absoluter Trugschluss. Ich denke es ist schwierig in Worte zu beschreiben wie es sich anfühlt seine eigene Arbeit die man als abgeschlossen betrachtet hat, als halbfertig anzusehen zu müssen. Das Zusammenspiel zwischen der MacPherson Vorderachse und der Mehrlenker-Hinterachse bedingt einer Abstimmung welche sich nicht ganz an die geltenden Normen im Fahrzeugbau hält, wobei vor allem die Vorderachse sehr grossen Einfluss auf das Gesamt-Fahrverhalten mit sich bringt. Hier einen optimale Balance bereits in der Theorie zu finden wäre wohl ein grösseres Unterfangen gewesen. Hier aber die einzelnen Punkte die beim virtuellen Testen sich isolieren liessen:
-Reifengrösse
Für den Corsa macht es keinen Sinn vorne und hinten die selbe Reifenbreite zu fahren. Es ist zwingend nötig hinten einen breiteren Reifen zu fahren, wobei ich glücklicherweise sagen kann das meine Entscheidung mit 200er vorne und 240er hinten definitiv die richtige war. Bei gleich grosser Bereifung wird der Wagen massiv übersteuernd, dies sogar wenn vorne und hinten 240er verbaut wären, das Grip-Niveau an der Vorderachse ist zu diesem Zeitpunkt höher als hinten und führt am sehr kleinen Grenzbereich unweigerlich dazu das der Wagen hinten ausschert was auch schnell dazu führt das der Wagen unkontrollierbar wird.
-Federung
Die unterschiedlichen Federraten bringen Unruhe ins Fahrzeug und machen die Vorderachse unpräzise zum Lenken, die Lenkung gönnt sich hierbei gerne mal eine Gedenksekunde bis das Einlenken auch zu einem Richtungswechsel führt. Hier wäre es möglich entweder die Hinterachse etwas weicher zu machen oder die Vorderachse straffer. Im Spiel habe ich mich zum angleichen der Vorderachse entschieden da dadurch das Lenkverhalten massgeblich verbessert wurde. In Realität würde dies bedeuten dass wohlmöglich an der Vorderachse 140N/mm Federn Einzug halten müssten.
-Federwegbegrenzung
Ich durfte feststellen dass das Kurvenäussere Rad der Hinterachse beim Einfedern ein Mass erreichen kann welches das kurveninnere Rad zu sehr entlastet und dann dies eine Übersteuertendenz hervorruft. Hier wäre es möglich einen ca. 20mm längeren Federwegbegrenzer einzubauen oder den bestehenden mit einem kleinen Block zu untersetzen. Dies würde im Notfall verhindern dass eine Seite zu fest eintaucht und somit die Gegenseite entlastet. Grundsätzlich hat dies für die meisten Strecken keinen Einfluss könnte sich aber als nützlich erweisen sollte ich etwas unebenere Hochgeschwindigkeitsstrecken fahren wollen. z.B. Nordschleife
-Rollzentrum
Rein theoretisch müsste, wie bereits in den Beiträgen zuvor erwähnt, das Rollzentrum der Vorderachse höher liegen als das hintere. Beim testen durfte ich feststellen dass dieser Umstand unweigerlich Untersteuern zur Folge hätte und es den Vorderwagen beginnt anzuheben sobald man in eine Kurve fährt, die neutralste Version ist hier das Rollzentrum auf gleicher höhe zu halten wie das hintere. Dies führt zwar immer noch zum abheben des vorderen Kurveninneren Rades aber dies geschieht sehr sanft und merkt man zum Teil nicht mal.
-Sturz
Bis anhin war ich auf der Hinterachse mit -2° Unterwegs was sich herausstellte war etwas zu wenig. Hier darf ich auf -2.5° erhöhen wobei die Vorderachse ihre -3° weiterhin behalten darf.
-Bremsen
Die Bremsbalance für den Corsa ist abhängig von der Anti-Dive Fähigkeit beider Achsen. Hier zeigte sich je nach Einstellung dass der optimalste Bereich bei 65-70% Bremsleistung an der Vorderachse liegt. Wobei 65% eine Übersteuertendenz hervorruft und 70% bereits Untersteuern beim Bremsvorgang darstellt.
Basierend auf allen Informationen habe ich nun eine gute Vorstellung davon was genau innerhalb des Fahrwerks geschieht und bin guten Mutes hier die richtigen Entscheidung treffen zu können um einzelne Bereiche des Fahrwerks bzw. des Gesamtkonzepts zu optimieren.
Aber vieles davon ist noch einige Zeit entfernt und der Corsa hat noch andere Baustellen die Beachtung benötigen, somit endet die Theorie hier.
Bis zum nächsten Mal, dann wieder im Hardware-Modus.